Auf Nimmerwiedersehen, liebe Stechuhr
Acht Stunden und vierundzwanzig Minuten, vierstundenzwölf, 32h48min, 24 Stunden. Jahrelang begleiteten mich diese Zahlen — durch die trockene kantonale Verwaltung, in die kreative Agenturwelt, ja gar in der lustvollen Reisebranche waren sie stets an meiner Seite. Ich habe sie nie ins Herz geschlossen und trotzdem haben sie sich bei mir eingebrannt.
Meine täglichen Arbeitsstunden, die Soll-Zeiten pro Woche, die Bruchteile von 40, 41 oder 42 Wochenstunden, je nach Pensum aufgestückelt in mehr oder weniger sinnlose Minuten-Tranchen. Sie waren die Leitplanken auf meiner Angestellten-Autobahn, sie waren mein Kompass im Arbeitsdschungel — neben meiner Leistung und den zu erledigenden Aufgaben, selbstverständlich.
Seit einiger Zeit bin ich die lästigen Biester los: Als Selbstständige kann ich meine Arbeitszeiten gänzlich selber bestimmen. Kein Chef überprüft, ob ich erst um zehn Uhr komme und nach einer langen Mittagspause bereits um drei Uhr den Schreibtisch hinter mir lasse.
Absolute Freiheit!
Doch Sie ahnen es, liebe Leserinnen und Leser, die Sache hat einen Haken, und zwar nicht den, den Sie jetzt vermuten. Natürlich, auch wir Selbstständigen müssen rechnen, doch die Mathematik ist erstaunlicherweise mein kleinstes Problem. Nein, es ist die Psychologie, die mir einen Strich durch die Rechnung macht: Achtstundenvierundzwanzig, vierstundenzwölf, klingt es in meinen Kopf. Du darfst noch nicht nach Hause, singen die Stimmen, la-la-la-la. Diese magischen Zahlen, sie scheinen mir immer noch Garanten für Qualität und Erfolg zu sein.
Und so sitze ich eines Tages an meinem Schreibtisch — die Arbeit ist erledigt und ich könnte die Freiheit geniessen — und tue das, was jede vernünftige Angestellte tun würde, die noch ein wenig Zeit totschlagen muss: Ich mache einen Ausflug ins Internet. Katzenbabys, Schmollmund-Selfies und exotische Reiseziele buhlen um meine Aufmerksamkeit, als mein Blick auf die Headline eines Artikels fällt:
«Angst ist ein schlechter Ratgeber für Unternehmer».
Und schlagartig wird mir klar: Ich habe Angst. Angst vor der absoluten Freiheit. Denn wer absolute Freiheit hat, der hat auch absolute Verantwortung. Die lieben Zahlen also, sie sind mitnichten Garanten für Qualität und Erfolg, sondern ganz einfach Ausreden dafür, gewohntes Terrain zu verlassen und Neues zu wagen. Zeit, sie endgültig loszuwerden.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Handelszeitung (Nr. 40, 3. Oktober 2019)
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